Wieso Eltern dem Ernährungskompass von Kindern trauen können
Katharina Fantl coacht Familien in Sachen Ernährung. Sie glaubt nicht an Verbote gewisser Nahrungsmittel - sie glaubt an den inneren Ernährungskompass von Kindern. Kinder sollen spüren lernen, worauf sie Appetit und wann sie genug haben.
Katharina Fantl, viele Leute sind Anfang des Jahres im Diätmodus, weil sie vorher über die Stränge gehauen haben. Unsere Kinder haben in letzter Zeit auch viel Chips und Süsses gegessen. Müssen wir ein schlechtes Gewissen haben?
Nein. Der Druck und diese Einschränkung von Lebensmitteln à la «heute gibts kein Dessert» ist nicht gut. Deshalb übt Süsses so eine Anziehungskraft aus, wenn Kinder an Weihnachten, Ostern oder am Geburtstag den Freipass erhalten. Kinder, die nicht das ganze Jahr über mit einem Verzichtsgefühl leben, schlagen auch während der Festtage nicht über die Stränge.
Man sollte also Süsses nicht verteufeln.
Verteufeln ist kontraproduktiv. Es geht nicht nur um die Warnung oder die rote Ampel, Süsses sei ungesund. Das hören die Kinder ja schon im Kindergarten, und man redet ihnen ein schlechtes Gewissen ein. Andererseits werden sie mit Süssem belohnt: beim Kindergeburtstag, in der Schule, sogar beim Arzt gibt es einen Traubenzucker nach der Spritze.
Sie haben drei Jungs. Wie handhaben Sie das denn?
Bei uns ist das sehr frei, wir haben wenig Regeln in Bezug auf Süsses oder andere Produkte. Zum Abendessen steht Rohkost ebenso auf dem Tisch wie Wurst, Butter, Konfi und Nougatcreme. Die Kinder können wählen, was sie wollen.
Und wenn sich Kinder immer nur Marmelade oder Nougatcreme aufs Brot streichen?
Alle haben Präferenzen, ich bin auch eher die Süsse. Wieso das Honigbrot schlechter sein soll als das Salamibrot, verstehe ich nicht. Als wir vom reglementierten Essen zum freien Essen umgestellt haben, gab es eine Phase, in der die Kinder überkompensierten. Das harmonisierte sich. Dieses So-heiss-auf-Süsses-Sein nahm deutlich ab. Das erlebe ich auch in Familien, die wir begleiten.
Nützliche Informationen
Text: Monica Müller, Benita Vogel
Dem Kind helfen, das Gespür für Appetit und Sättigung zu finden
Was treffen Sie in den Familien an, die Sie coachen?
Es gibt Kinder, die Essen verweigern. Und Kinder, die zu viel essen. Oft sehen wir auch emotionales Essen. Kinder essen, weil sie traurig sind, Stress in der Schule haben oder frustriert sind. Wenn das Essen zum Ventil für unerfüllte Bedürfnisse wird, harmonisiert sich das nicht automatisch, indem man alle Lebensmittel freigibt. Hier muss man dem Kind helfen, das Gespür für Appetit zu finden, für Bekömmlichkeit – und sehr wichtig: für seine Gefühle und Bedürfnisse.
Wo lauern die Gefahren, dass Kinder dieses gesunde Verhältnis zum Sättigungsgefühl, zum Essen verlieren?
Das Problem ist oft eine Reizüberflutung. Wenn ein Kind zum Beispiel häufig vor dem Laptop beim Computerspielen isst oder vor dem Fernseher. Oder wenn sich Stress aus der Schule aufs Essen überträgt, ein Kind dann hastig isst und das Gespür verliert, wann es genug hat. Oder wenn Essen zum Machtinstrument wird, weil Eltern Dinge sagen wie «wenn du jetzt nicht aufisst, gibts nachher kein Eis». Werden Kinder so manipuliert, verlieren sie immer mehr das Gespür dafür, ob sie Hunger haben oder satt sind.
Kommt es auch auf das Essen an sich an?
Einseitiges Essen ist nicht gut. Wenn man dem Kind, überspitzt gesagt, nur Toastbrot und Fanta vorsetzt, kann es auch seine Bedürfnisse nicht spüren. Man muss ihm eine Palette von vielen Lebensmitteln anbieten.
Manche Kinder wollen aber gar nichts Neues probieren. Was können Eltern dann tun?
Es gibt Phasen, in denen Kinder einseitig essen, weil sie so viel Neues lernen. Beim Essen wollen sie sich dann auf Vertrautes verlassen. Dann sollen es halt immer Nudeln sein. Mit etwas Gelassenheit steht man solche Phasen als Eltern gut durch.
Und wenn diese Phase Jahre dauert?
Wenn Eltern dadurch gestresst sind und dem Kind immer wieder ans Herz legen, den Sellerie zu probieren, wird es schon deshalb Nein sagen, weil es sich bevormundet fühlt. Je mehr Druck man ausübt, desto stärker wird sich das Kind zurückziehen. Bei unserem Grössten habe ich am Anfang viel Wert darauf gelegt, dass er das Gemüse aufisst. Er reagierte trotzig und wollte gar nicht mehr essen.
Und dann?
Der Machtkampf, ob er den Broccoli nun isst oder nicht, fühlte sich für niemanden gut an. Ich habe dann aufgegeben und gesagt: «Ich gebe dir eine Auswahl, und du entscheidest, was du essen möchtest.» Es war spannend zu sehen, wie er nach einiger Zeit von sich aus vieles zu essen begann. Deshalb sage ich Eltern immer wieder: Lasst los, damit die Kinder von sich aus wieder die natürliche Neugier entwickeln. Manchmal braucht es Dutzende von Malen, bis Kinder etwas Neues nur in den Mund nehmen.
Wird es mit älteren Kindern einfacher?
Je älter Kinder werden, umso grösser wird ihr Repertoire. In ganz seltenen Fällen gibt es wirklich selektive Esser, die noch mit 12 Jahren nur Weniges essen. Aber auch diese Kinder sind in den allermeisten Fällen nicht krank oder unterernährt. Die Sorge, dass ein Kind Mangelerscheinungen entwickelt, ist meist unbegründet. Eltern können dafür sorgen, dass sie vielfältig einkaufen und ein vielfältiges Angebot bereitstellen. Und sonst sollen sie sich entspannen und Druck wegnehmen.
Positive Esskultur schaffen
Der gesellschaftliche Druck zur gesunden Ernährung ist gross. Schon in der Kita hängt die Ernährungspyramide, und im Chindsgi bekommen die Kinder Vorgaben für den Znüni. Ist das alles kontraproduktiv?
Es gibt Eltern, die ihre Kinder einseitig ernähren. Hier ist es gut, das Thema Vielfalt zu betonen. Wichtig ist, gemeinsam zu kochen, frische Produkte zu kaufen, wenig verarbeitete Lebensmittel, und eine Esskultur zu schaffen. Mit Ernährungspyramide und Ampelsystem weckt man keine Freude. Es wird zu verkopft angegangen, und ein ganz wichtiger Punkt geht dabei auch vergessen.
Welcher?
Ernährung ist individuell. Die Ernährungswissenschaft zeigt immer mehr, dass allgemeingültige Empfehlungen, die mit der Ernährungspyramide gegeben werden, nicht für jeden gleichermassen gelten. Manche verdauen Kohlenhydrate, andere Proteine besser. Auch sind die Bedürfnisse nicht jeden Tag gleich.
Manche Kinder verinnerlichen die Ernährungspyramide richtiggehend.
Angepasste Kinder breiten mir noch grössere Sorgen. Sie wollen für die Erwachsenen alles richtig machen, kontrollieren die Znüniboxen ihrer Gspänli und sagen «das ist aber ungesund!». Diese Kinder setzen sich unter Druck, sodass Essen für sie nichts Natürliches mehr ist, das Spass macht.
Wie verhalten Sie sich als Mutter: Beissen Sie als Vorbild in den Apfel, obwohl Sie eigentlich lieber ein Honigbrot hätten?
Wenn wir davon ausgehen, dass wir spüren, was wir brauchen, müssen wir uns auch nicht verstellen. Es ist viel wichtiger, den Kindern Freude an der Ernährung zu vermitteln. Indem man zusammen kocht und gemeinsame Mahlzeiten positiv besetzt. Man soll den Kindern auch nicht seine Probleme vorleben. Im Sinne von: Oh, heute darf ich nur wenig essen, ich habe schon wieder zugenommen. Oder bei Süssem sagen: Jetzt habe ich wieder gesündigt.
Und wenn Sie keinen Hunger haben, essen Sie dann trotzdem?
Nein, ich finde es legitim, sich an den Esstisch zu setzen und nichts oder wenig zu essen, ein anderes Mal mehr. Damit Kinder sehen: Hunger ist bei jedem Einzelnen unterschiedlich und variiert.
Kindern selber bestimmen lassen?
Bei vielen Familien mit Kleinkindern geht die Freude am Essen etwas verloren. Nach langen Tagen sind alle müde, ein kreatives Abendessen würde Stress bedeuten. Ist es okay, dann die Spätzli aufzuwärmen?
Es geht nicht darum, jeden Tag toll zu kochen. Man sollte sich nicht zusätzlichen Stress aufhalsen, sondern schauen, wo man mehr Vielfalt auf den Tisch bringen kann. Zu Spätzli kann man einen Rohkostteller zubereiten. Am Wochenende kann man sich mehr Zeit nehmen und vielleicht zum Frühstück Porridge kochen, statt nur Brot aufzutischen. Für Vielfalt kann man schon beim Einkaufen sorgen und beispielsweise etwas auswählen, was man noch nie probiert hat. Auch wenn die Kinder es nicht sofort essen.
Wenn Sie etwas kochen, das ein Kind nicht mag, bereiten Sie dann etwas Zusätzliches zu?
Ich achte darauf, dass die Kinder einzelne Komponenten des Essens mögen. So koche ich zum Beispiel Lachs und Reis. Die Kinder können dann auswählen, ob sie nur den Reis essen oder den Lachs probieren möchten. Als Plan B haben wir immer Brot da. Ich würde auf keinen Fall verschiedene Gerichte kochen.
Am Frühstück scheiden sich die Geister. Manche Kinder wollen nichts essen, Eltern aber glauben, so könnten sie sich in der Schule nicht konzentrieren.
Viele Erwachsene essen auch erst mittags etwas, weil sie morgens nichts hinunterkriegen. Das ist sehr individuell. Ich überlasse es den Kindern. Merken sie, dass sie es nicht bis zum Znüni aushalten, werden sie von sich aus frühstücken. Wichtig ist es, das Frühstück anzubieten.
Ab einem bestimmten Alter wollen die Kinder keinen Znüni mehr. Wenn sie dann aber um 11 Uhr eine Prüfung haben, sind sie in einem Energieloch …
Auch wenn es schwer auszuhalten ist, würde ich sie die Erfahrung machen lassen. Wenn sie merken, jetzt geht an der Prüfung gerade nichts mehr, werden sie selbst draufkommen und Znüni essen.
Lassen Sie Ihre Kinder mit dem Taschengeld eigene Erfahrungen machen und riskieren, dass sie nur Schleckzeug kaufen?
Bisher handhaben wir es so, dass Taschengeld nicht für Essen ausgegeben wird. Wir haben die Auswahl an Essen, das meine Kinder wollen, zu Hause. Mit dem Ziel, dass sie eben nicht in diese Verbotsfalle geraten und mit dem Taschengeld nur Süsses kaufen.
Widerspricht das nicht Ihrer Grundhaltung?
Das mag stimmen. Aber wenn sie etwas wollen, können sie es mir sagen, und ich kaufe es ihnen, damit kein zu grosses Interesse daran entsteht. Wollen meine Kinder ihr Taschengeld unbedingt für Softdrinks ausgeben, kaufe ich diese lieber, um den Reiz zu nehmen. In Softdrinks steckt viel Zucker.
Stellen Sie diese Ihren Kindern uneingeschränkt zur Verfügung?
Nein, hier sollte man Kindern Vorgaben machen. Es gibt Durst und Hunger. Es ist sinnvoll, Kindern beizubringen, ihren Durst mit Wasser zu löschen, weil der Körper gerade dann Flüssigkeit braucht. Softdrinks liefern Flüssigkeit und Energie. Ist der Durst gelöscht, dürfen sie Softdrinks geniessen.
Wieso haben wir als Gesellschaft ein so kompliziertes Verhältnis zum Essen?
Wir leben als Eltern in einer Leistungsgesellschaft und glauben, alles perfekt machen zu müssen. Wir neigen dazu zu standardisieren. Das fängt beim Baby an, wenn es punkto Grösse und Gewicht nicht im Normbereich liegt. Das stresst. Die Angst von Eltern, es nicht gut genug zu machen, baut enormen Druck auf.
Ernährungskompass: Die Körperintelligenz beim Baby
Bei Babys und in der Tierwelt können wir die sogenannte Körperintelligenz beobachten. Tiere wissen, was ihnen guttut, der Katze muss man nicht über eine Ernährungspyramide sagen, dass sie ein Fleischfresser ist. Es gibt auch ganz unterschiedliche Essverhalten. Manche Tiere fressen mehrmals am Tag, andere, wie Schlangen, fressen und verdauen nur alle drei Monate. Hier laufen komplexe hormonelle Vorgänge ab.
Beim Menschen würde das gleich ablaufen, aber unsere kognitive Herangehensweise überlagert diesen «Ernährungskompass». Interessanterweise entstehen frühkindliche Störungen mit der Flaschennahrung nicht wegen der Flasche, sondern weil man in Milliliter sieht, wie viel das Kind getrunken hat. Steht auf der Verpackung, das Baby sollte 120 Milliliter trinken, es aber nach 80 Milliliter den Kopf wegdreht, versuchen die Eltern aus Sorge die restliche Milch ins Kind hineinzubringen. Es ist dieses Verkopfte, das alles aus dem Gleichgewicht bringt. Hat das Kind keinen Hunger mehr, darf sich das Kind von Brust oder Flasche abwenden. Dieses Gespür sollte den Kindern erhalten bleiben.
Buchtipp: «Dein Kind isst besser, als du denkst!»
Co-Autorinnen Katharina Fantl und Julia Litschko erklären in ihrem Buch, wieso Eltern dem inneren Ernährungskompass von Kindern trauen können. Sie sagen: Kinder haben von Geburt an ein natürliches Gespür für Hunger, Sättigung, Appetit und Bekömmlichkeit.
Foto: Getty Images
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