Lügen gehören zur Kindheit? Wie Kinder die Sache mit der Wahrheit lernen
«Du sollst nicht lügen!» - versuchen Eltern ihren Kindern beizubringen. Viele Mütter und Väter reagieren sehr ärgerlich, wenn sie ihren Nachwuchs bei der Unwahrheit ertappen. Doch Kinder müssen den Umgang mit Wahrheit und Unwahrheit erst lernen.
Zur Person:
Prof. Dr. med. Susanne Walitza leitet seit zehn Jahren die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Schon bei ihrer Studienwahl (Psychologie und Medizin) hat sie der Wunsch geleitet, jenen Kindern und Jugendlichen zu helfen, die aufgrund psychischer Störungen isoliert sind, am Rande unserer Gesellschaft stehen, verzweifeln, keinen Ausweg mehr sehen. «Ich sehe meine Aufgabe darin, diesen Kindern und Jugendlichen und ihren Familien zu ermöglichen, als Teil unserer Gesellschaft ihren eigenen, selbstbestimmten Weg zu finden – indem wir psychotherapeutische Behandlungen anbieten und zu verschiedenen Störungsbildern Forschung betreiben», sagt sie. «Mit dem Kind gemeinsam wachsen – das ist auch mein Ziel in der Erziehung meines eigenen Sohnes (13 Jahre). »
Nützliche Informationen
Das Wichtigste in Kürze:
- Fantasie und Wirklichkeit gehen bei kleinen Kindern oft ineinander über.
- Lügen kommen in jedem Alter vor, aber die Motive sind unterschiedlich.
- Eltern sollten ihren Kindern vermitteln, dass die Wahrheit ein hohes Gut ist.
- Kinder müssen auch lernen, dass Höflichkeit und Rücksicht manchmal wichtiger als die Wahrheit sind.
Frau Prof. Walitza, Kinder wollen die Welt verstehen, aber durchschauen sachliche Zusammenhänge noch nicht. Ein Kind weiss nicht, dass Sterne leuchten, weil sie grosse heisse Gaskugeln sind. Stattdessen überlegt es sich zum Beispiel, dass die Sterne funkeln, damit wir sie sehen können. In welchem Alter spielt die Fantasie eine besonders wichtige Rolle, um sich die Welt zu erklären?
Im Alter zwischen zwei und vier Jahren entwickeln Kinder ein starkes Vorstellungsvermögen. Zwischen drei und sechs Jahren, in der sogenannten «magischen Phase», gehen Wirklichkeit und Fantasie besonders häufig ineinander über.
Sind Lügen in diesem Alter manchmal eher Wunschträume?
Ja, genau! Manchmal entstehen Lügen aber auch aus Angst vor Strafe oder aus Bequemlichkeit. Lügen können auch ein Test sein, der dem Kind zeigt, was Erwachsene glauben und was nicht. Lügen kommt in jedem Alter vor – nur mit anderem Motiv.
Können Kinder zwischen Wahrheit und Unwahrheit unterscheiden?
Ja. Auch Kinder in der magischen Phase, bei denen die Fantasiewelt zu anderen Wahrheiten führt als die reale Welt, können zwischen diesen beiden Welten unterscheiden. Sie wissen, wenn die Wahrheit ihrer Fantasiewelt eine Lüge in der realen Welt ist. Wenn Kinder beim Lügen ertappt werden, fühlen sie sich unwohl.
Dürfen Kinder denn lügen?
Ehrlichkeit ist eines der wichtigsten Ziele in der Erziehung, denn sie ist die Basis für Vertrauen zwischen Menschen. Eltern sollten ihren Kindern vermitteln, dass die Wahrheit ein hohes Gut ist. Aber es sollte Eltern auch bewusst sein, dass Schwindeln Teil einer normalen Entwicklung ist. Lügen kommt in jeder Altersstufe vor.
Wie können Eltern sinnvoll reagieren, wenn sie merken, dass ihr Kind lügt?
Eltern sollten sachlich bleiben und die Entwicklungsstufe des Kindes berücksichtigen. Ein Zaubergegenstand, der hilft, die Wahrheit auch in schwierigen Situationen zu sagen, kann zum Beispiel bei jüngeren Kindern hilfreich sein. Bei älteren Kindern kann ein einfühlsames Gespräch helfen zu verstehen, warum es manchmal schwerfällt, die Wahrheit zu sagen, warum man aber trotzdem den Mut dazu aufbringen sollte. Wenn das Kind lügt, müssen Eltern nicht an ihrem eigenen Erziehungsvermögen oder an ihrem Kind zweifeln. Lüge und Wahrheit gehören für Kinder eng zusammen. Durch den Umgang mit Lügen entdecken Kinder die Bedeutung und den Wert von Wahrheit. Eng gekoppelt an das Lügen ist auch das Lernen, Schuld zuzugeben, sich einen Irrtum einzugestehen und sich zu entschuldigen. All das sind wichtige Werte.
In welchen Fällen darf die Wahrheit zurückgestellt werden?
Rücksichtsvoll und höflich zu sein, ist manchmal wichtiger als die Wahrheit. Ehrlichkeit heisst nicht, andere verletzen zu dürfen. Verletzend kann zum Beispiel sein, einen Menschen auf ein hervorstechendes körperliches Merkmal hinzuweisen. Kinder müssen auch wissen, dass sie sich selbst schützen dürfen. Sie müssen also lernen, in welcher Situation welcher Grad an Offenheit angemessen ist. Aber das darf nicht dazu führen, dass im normalen Zusammenleben die Wahrheit verborgen wird. Eltern sollten ihren Kindern vermitteln, dass sie auch im Notfall die Wahrheit sagen sollten, sofern sie niemanden verletzen. Die Wahrheit sollte der Normalfall sein. Es braucht keine Lügen im Alltag.
Doch auch Eltern lügen … «Nein, in diesem Geschäft gibt es kein Eis.» – «Ja, wir gehen auch gleich ins Bett.» – «Es dauert nicht mehr lange», sagen sie zum Beispiel.
Oftmals wollen Eltern ihre Kinder schützen, wenn sie lügen. Manchmal entspringen Lügen aber eher der Bequemlichkeit. Eltern sollten sich klarmachen, dass ein nicht eingehaltenes Versprechen auch eine Form der Lüge ist.
Wie bringen Eltern Kindern bei, in welchen Fällen die Wahrheit wichtig ist, und in welchen anderen Fällen es besser ist, nicht bei der Wahrheit zu bleiben?
Kinder lernen durch ihre Eltern. Deshalb müssen Eltern ihnen ein Vorbild sein. Es ist wichtig, die Wahrheit zu sagen und den Mut aufzubringen, Irrtümer oder Lügen zuzugeben.
Foto: Getty Images
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