Erziehung des Kleinkindes: Selbstständigkeit hat ihre Grenzen
Mit der wachsenden Mobilität steigt die Verletzungsgefahr. Wie können Eltern den Nachwuchs zu selbstständigen Wesen erziehen und trotzdem Grenzen setzen? Mit ein paar Tricks in der Erziehung und viel Geduld bereiten Eltern das Kleinkind auf die grossen und kleinen Herausforderungen des Lebens vor.
Nützliche Informationen
Das Wichtigste in Kürze:
- Im zweiten Lebensjahr ist das Kind voller Entdeckergeist: Erziehung wird jetzt immer wichtiger.
- Räumliche Grenzen setzen und Augen auf: Auch in der Wohnung schlummern ungeahnte Gefahrenquellen.
- Mit den richtigen Worten Grenzen setzen: Obwohl «Nein!»-sagen noch wenig hilft, ist es dennoch wichtig, jetzt gewisse Verbote einzuführen.
- Lernen durch Erleben: Kinder müssen auch eigene Erfahrungen machen dürfen.
Die Neugier auf die Welt ist erwacht! Seitdem das Kind krabbelt oder vielleicht schon läuft, erschliesst es sich mehr und mehr die Welt und hält die ganze Familie auf Trab. Was eigentlich enthält der Papierkorb unter dem Schreibtisch? Und was glitzert da oben auf der Tischkante? Der Entdeckergeist treibt das Kind voran. Mit jedem Schritt entwickelt es sich weiter. «Die Autonomiephase hat begonnen. Das Kind wird ab jetzt immer selbstständiger», erklärt Erziehungsberaterin Susanna Fischer, Leiterin der Familienpraxis Stadelhofen in Zürich.
Achtung: Neue Gefahrenquellen
Die neuen Abenteuer bergen allerdings viele Gefahren und fordern oft die ganze Aufmerksamkeit der Familie. Wenn Kinder Stühle und Schränke erklimmen, an Tischdecken und Kabeln ziehen, sich für Herdregler und Wasserhähne interessieren, können sie sich ernsthaft verletzen. Kleinkinder wissen in vielen Situationen noch nicht, wie sie sich verhalten müssen. Insbesondere Verbrennungen und Verbrühungen gehören zu den häufigsten Unfällen im Kindesalter.
Gefahren lassen sich eindämmen
Es ist deshalb wichtig, dass Eltern klare Grenzen ziehen. Solche Grenzen setzen sie auch, indem sie das Umfeld möglichst sicher machen:
- Tischdecken und Kabel sichern: Kinder, die an einer Tischdecke ziehen, können sich an allem verletzen, was mit der Tischdecke auf sie hinunterfällt – und sich beispielsweise an heissen Getränken verbrühen. Das gleiche gilt für Kabel, die mit Wasserkochern oder Bügeleisen verbunden sind.
- Medikamente, Putzmittel, Nagellackentferner wegschliessen: Vergiftungsgefahr! Dein Kind ist neugierig und will alles ausprobieren.
- Das Kind erkundet jetzt die Welt mit allen Sinnen. Auch mit dem Mund. Perlen, Knopfbatterien, Nüsse und Münzen wegräumen: So können sie nicht verschluckt werden.
- Verstauen, was scharf und spitz ist – damit sich das Kind nicht an Schere, Messer, Rasierklinge oder Feile verletzt.
- Zimmerpflanzen checken: Welche Pflanzen giftig sind, finde dies dank dieser Liste heraus.
- Lasse dein Kind nie alleine in der Badewanne. Auch bei Gartenteichen und Pools gilt höchste Vorsicht wegen Ertrinkungsgefahr. Das gilt natürlich auch unterwegs an Seen und Flüssen. Achtung: Selbst in niedrigem Wasser können Kleinkinder ertrinken!
- Elektrische Geräte im Bad vom Netz nehmen: Wenn ein Föhn und ein Rasierapparat ins Wasser fällt, kann ein tödlicher Stromschlag entstehen.
Grenzen entdecken? Augen auf!
Die Welt durch die Augen deines Kinder sehen: Versuche mal, dich selbst auf den Boden zu begeben und durch die Wohnung zu krabbeln. Denn aus dieser ungewohnten Perspektive lassen sich manche Gefahren fürs Kind entdecken, die bislang nicht bekannt waren. Ungesicherte Steckdosen, kantige Ecken, scharfe Nagelköpfe unter der Tischplatte, ein Messer, das unter das Regal gerutscht ist.
Die Sache mit dem Nein-Sagen in der Erziehung
Immer wieder will das Kind auf den Stuhl klettern. Immer wieder springen Eltern auf, um den Stuhl festzuhalten. Viel bequemer wäre es doch, durch eine konsequente Erziehung dem Kleinkind Grenzen zu setzen und es mit einem einfachen «Nein!» auszubremsen. Doch so einfach geht Erziehung nicht. Susanna Fischer weiss: «Kinder können in diesem Alter noch keine Verbote begreifen.» Dennoch sei es sinnvoll, das «Nein!» einzuführen, wenn auch ohne die Erwartung, dass das Kind dann reflexartig von seinem Vorhaben ablasse und sein Verhalten ändere. Das Kind muss erst lernen, was «Nein» bedeutet. Und das braucht Zeit. «Wichtig ist, dass Eltern die Anzahl der Neins überschaubar halten. Mehr als fünf wichtige Verbote sollte es nicht geben.»
Unaufgeregt und deutlich
Die Aussage «der Ton macht die Musik» gilt auch in der Erziehung und in der Familie. Ein «Nein!» sollte nicht dramatisch, sondern unaufgeregt klingen. «Ansonsten besteht die Gefahr, dass das Kind die gefährliche Aktion nur deshalb wiederholt, damit Mama wieder so theatralisch spricht», warnt Susanne Fischer. Und wie hört sich so ein unaufgeregtes Nein an? «Leo, ich sehe, diese scheppernde Schublade interessiert dich, aber sie ist gefährlich, da sind Glasflaschen darin», könnten Eltern sagen. Danach soll das Kind ruhig aus der Situation genommen werden. Geht es dann immer wieder zur Schublade, müsse die Sprache deutlicher sein: «Stopp, das ist Glas, das ist gefährlich!»
Kinder Erfahrungen machen lassen
Doch trotz aller Vorsicht: Eltern sollten ihrem Kind nicht allzu viele Grenzen setzen. Kinder müssen auch Erfahrungen machen dürfen und selber lernen, welches Verhalten wann angebracht ist. Eine Banane zerschneiden, einen dicken Nagel in weiches Holz hämmern, auf der Mauer balancieren – all das ist unter Aufsicht der Mutter oder des Vaters möglich und sinnvoll. Susanna Fischer: «Wenn das Kind ständig die Treppe hochklettern will, macht es keinen Sinn, wenn es die Eltern immer wieder verbieten.» Sinnvoller sei es, mit dem Kind dort zu spielen, sodass es in Sicherheit und unter Beobachtung, vielleicht auch unter Anleitung, lernen kann, die Treppe hochzukriechen.» So machen Eltern ihren Kindern die Welt zugänglich und bereiten sie auf das Leben vor. «Dabei lernt das Kleinkind vor allem, dass es selbstwirksam ist. Dies zu wissen, fördert ungemein sein Selbstwertgefühl.»
Balance zwischen Fürsorge und Überfürsorge
Kleinkindlicher Entdeckergeist hat also seine Grenzen – überall dort, wo sich das Kind gravierend verletzen kann. Es braucht also eine klare Erziehung, nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig. Denn gleichzeitig sollten Eltern bei der Erziehung beachten, dass Kinder durch eigene Erfahrungen fürs Leben lernen. Hier stossen Eltern oft an ihre Grenzen: Für Mütter und Väter ist es nicht immer leicht, die Balance zwischen Vorsicht und Übervorsicht zu halten.
Übertreibe ich es mit der Erziehung? Wer herausfinden möchte, ob er in manchen Situationen das Kind überbehütet, kann beobachten, wie viel Bewegungsfreiheiten andere Eltern ihren Kinder lassen oder wie viel der eigene Partner dem Kind selbst zutraut. Egal, wie du erziehst: Wichtig ist, das Kleinkind immer gut im Auge zu behalten, um in einer gefährlichen Situation schnell einschreiten zu können.
Foto: Getty Images
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