Interview: Mit Liebe und individuellen Regeln erziehen
Beginnt Erziehung schon im Babyalter? Und wie wichtig sind Regeln und Konsequenzen wirklich? Irina Kammerer, Kinderpsychologin an der Uni Zürich, gibt Tipps für frischgebackene Eltern.
Irina Kammerer (44) hat vier Kinder und ist als Kognitive Verhaltenstherapeutin spezialisiert auf das Kindes- und Jugendalter. Sie arbeitet als Lehrbeauftragte, Dozentin und Supervisorin sowie Studienleiterin MAS Schulpsychologie.
Nützliche Informationen
Das Wichtigste in Kürze:
- Der erste Pfeiler der Erziehung bleibt die Liebe, die Unterstützung, die wärmende Geborgenheit. Der zweite Pfeiler besteht aus Klarheit, Strukturen, Grenzen und Regeln.
- Das zielführende Verhalten zu fördern und zu unterstützen ist immer effizienter und wirksamer als das Bestrafen von unerwünschtem Verhalten.
- Die wissenschaftlichen Daten sagen uns: Der autoritative Erziehungsstil ist der beste Weg.
- Die Eltern sollten bei der Erziehung an einem Strang ziehen und einander nicht in den Rücken fallen.
Alle Eltern müssen sich früher oder später mit der Kindererziehung beschäftigen. Aber beginnt sie schon ab Tag eins im Leben des Säuglings, oder haben Mami und Papi noch eine Schonfrist bei der Erziehung?
Zum Thema Erziehung gehört unbedingt auch das Thema Bindung. Beides gehört immer zusammen, aber bei einem Neugeborenen steht erst einmal der Aufbau einer sicheren Bindung zu den Eltern im Vordergrund. Wenn das Baby Bedürfnisse hat, hungrig ist oder müde zum Beispiel, sollte es die Erfahrung machen, dass verlässliche Bezugspersonen um es herum sind, die diese Bedürfnisse wahrnehmen, sie richtig interpretieren und unmittelbar erfüllen. So lernt das Kind, dass es sich auf seine Eltern verlassen kann.
Und dann kommen die Grosseltern des Babys und warnen davor, das Baby zu verwöhnen. So werde die gesamte Erziehung fehlschlagen.
Die Erziehung wird erst später wichtig. Vor allem die ersten zwei Jahre sind sehr wichtig für den Bindungsaufbau. Eine sichere Bindung zu ermöglichen, ist das Wichtigste, was Eltern ihren Kindern geben können. Aber klar muss ich bei herumkrabbelnden Babys auch gewisse Sicherheitsaspekte im Auge behalten.
Von Anfang an kann man gewisse Entscheidungen treffen. Ist es schon eine Form von Erziehung, wenn ich meinem weinenden Baby bewusst keinen Nuggi gebe?
Bei einer Entscheidung für oder gegen den Nuggi geht es eher um Wertehaltungen und Vorstellungen der Eltern – unabhängig vom Bedürfnis des Kindes. Sie müssen ja trotzdem schauen, wie sie ihrem Kind helfen können, sich zu beruhigen.
Es geht also nicht darum, bereits einem Baby Grenzen zu setzen, sondern seine Bedürfnisse auf welche Art auch immer prompt zu erfüllen?
Das Kind sollte hunderttausendmal die Erfahrung machen können, dass es wahrgenommen wird und seine Grundbedürfnisse nach Liebe und Geborgenheit genauso wie die nach Schlaf, Nahrung, Hygiene und so weiter erfüllt werden. Die ersten fünf, vor allem aber die ersten zwei Jahre, sind elementar für die frühkindliche Bindung. Heute weiss man zwar, dass Bindung ein lebenslanges Thema bleibt, aber die ersten Jahre sind massgeblich prägend.
Die sichere Bindung ist also die Grundlage für eine gesunde Entwicklung des Kindes. Aber irgendwann brauchen Kinder doch auch Regeln und Grenzen, oder?
Der Übergang ist fliessend. Eltern sollten bei der Erziehung nie aufhören, wahrzunehmen, welche Bedürfnisse ihr Kind hat. Der erste Pfeiler der Erziehung bleibt die Liebe, die Unterstützung, die wärmende Geborgenheit. Der zweite Pfeiler besteht aus Klarheit, Strukturen, Grenzen und Regeln. All das spielt bei einem Säugling aber noch keine Rolle.
Mit welchen Situationen beginnt das Formulieren von Regeln und das Grenzensetzen in Familien typischerweise?
Stellen wir uns ein zwölfmonatiges Kind vor, das seinen Trinkbecher immer wieder auf den Boden wirft. Es ist am Experimentieren und schaut, was passiert, wenn etwas herunterfällt.
Viele Eltern beginnen nun zu schimpfen und stellen die Regel auf, dass der Becher auf dem Tisch bleiben soll.
Genau. Es sollte aber auch in dieser Situation eher darum gehen, mit dem Kind die Welt zu entdecken. Ich kann ihm erklären, was man mit dem Becher machen kann – und auch, dass vielleicht etwas kaputt geht, wenn er auf den Boden fällt. Man sollte aber nicht davon ausgehen, dass ein Kind sofort auf die gewünschte Weise reagiert und den Becher nicht mehr fallen lässt. Erwachsene meinen oft, ihre Kinder müssten sofort auf ihre Regeln und Anweisungen reagieren. Aber nein! Kinder reagieren nicht unmittelbar auf Regeln. Sie müssen ein und dieselbe Erfahrung tausende Male machen, bis sie sie verinnerlicht haben. Das müssen Eltern verstehen.
Zur Erziehung gehört doch aber auch, Regeln aufzustellen und Konsequenzen auf unerwünschtes Verhalten folgen zu lassen. Wann ist das sinnvoll?
Das ist sehr individuell. Eltern sollten immer zuerst wahrnehmen, was ihr Kind braucht, egal in welchem Alter. Ein Beispiel: Manche Kinder schaffen es schon früh relativ automatisch, um sechs Uhr abends zu Hause zu sein, wenn die Eltern ihnen das so gesagt haben. Andere schaffen das nicht. Es bringt aber nichts, Konsequenzen zu verhängen, wenn ich nicht weiss, weshalb mein Kind zu spät gekommen ist. Ist es zu stark ins Spiel vertieft? Hat es überhaupt eine Uhr? Gibt es noch andere Gründe?
Also ist immer das oberste Gebot, die Bedürfnisse des Kindes zu verstehen und darauf zu reagieren?
Es ist jedenfalls nicht sinnvoll, vorschnell Regeln durchzusetzen und Konsequenzen zu verhängen, die vielleicht gar nicht den Grund treffen, wieso das Kind zum Beispiel zu spät kommt. Besser ist es, die Gründe zu verstehen und die Situation in Zukunft so zu gestalten, dass das Kind pünktlich nach Hause kommen kann.
Und wenn es das dann trotzdem nicht tut?
Dann sollte man nur mit logischen Konsequenzen arbeiten. Wenn das Kind zum Beispiel immer eine Viertelstunde zu spät kommt, kann man am nächsten Tag eine Viertelstunde von der Spielzeit draussen abziehen. Eine unlogische Konsequenz wäre etwa ein TV-Verbot. Das ist eine reine Bestrafung, die nichts bringt und der Beziehung schadet.
Was ist bei der Kindererziehung wirkungsvoller? Klare Konsequenzen bei unerwünschtem Verhalten – oder das unerwünschte Verhalten ignorieren und das erwünschte Verhalten besonders positiv herausstellen?
Immer das zweite. Das zielführende Verhalten zu fördern und zu unterstützen ist immer effizienter und wirksamer als das Bestrafen von unerwünschtem Verhalten. Wir wissen bereits seit 1932 aus den Verhaltensexperimenten des Psychologen Edward Lee Thorndike, dass Belohnung verhaltenswirksamer ist als Bestrafung. Bei der Bestrafung lernt das Kind nicht, was es beim nächsten Mal anders oder besser machen soll.
Man muss ja als Eltern erst einmal seinen Erziehungsstil finden. Autoritär will heute niemand mehr erziehen, laissez-faire gilt auch nicht als das optimale Erziehungsmittel der Kindererziehung. Was also tun?
Die wissenschaftlichen Daten sagen uns: Der autoritative Erziehungsstil ist der beste Weg.
Was macht ihn aus?
Zum autoritativen Erziehungsstil gehören immer die Unterstützung und Anerkennung des Kindes sowie Liebe, Geborgenheit und Wärme für das Kind. Es gibt aber auch Regeln. Diese Kombination gilt heute als der beste Erziehungsstil für die gesunde Entwicklung.
Welche Erziehungsmethoden gelten als besonders schädlich für die kindliche Entwicklung?
Heute weiss man, dass laissez-faire für die gesunde Entwicklung negativ ist. Kinder bekommen dabei zu wenig Halt und Orientierung. Doch vor allem der punitive, strafende und der inkonsistente Erziehungsstil sind schädlich für eine gesunde Entwicklung. Strafendes Erziehungsverhalten hat fast immer schädliche Auswirkungen auf das emotionale Befinden oder Verhalten eines Kindes. Wenn Mama einmal so reagiert und einmal so, ist das verwirrend für das Kind. Dasselbe gilt, wenn sich die Eltern nicht einig sind. Damit können Kinder nicht umgehen. Die Eltern sollten also unbedingt an einem Strang ziehen und einander nicht in den Rücken fallen.
Keine leichte Aufgabe für frischgebackene Mütter und Väter, oder?
Deshalb ist es ja auch gut, dass die Erziehung nicht an Tag eins beginnt, sondern zunächst die Bindung entscheidend ist. Die Eltern haben somit Zeit, ihr Kind und seine Bedürfnisse kennenzulernen. Auch innerhalb der Familie ist jedes Kind anders. Anita braucht etwas anderes als Berta, das eine Kind braucht vielleicht mehr Klarheit bezüglich Regeln als das andere. Da ist wieder die Sensitivität der Eltern der entscheidende Faktor – zu spüren, welches Kind was genau braucht.
Beratungsangebote und Buchtipp:
- Psychotherapeutisches Zentrum Universität Zürich
- Guy Bodenmann: Lehrbuch Klinische Paar und Familienpsychologie
Foto: Getty Images / zVg Irina Kammerer
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